«Schaffst du es hier, dann schaffst du es überall», sang Liza Minnelli im Film «New York, New York». Trifft zu: Im «Big Apple» musste sich im Frühling beweisen, wer auf der internationalen Tour der «West Side Story» mitwirken will – um mit dem Musical um die Welt und auch in die Schweiz zu reisen. Wir durften an der Audition dabei sein.

Im Eingang der Pearl Studios, an der 8. Avenue zwischen der 35. und 36. Strasse, herrscht reges Kommen und Gehen – aber etwas ist anders als in den anderen Gebäuden hier in Manhattan. Niemand trägt einen Business-Anzug. Junge Leute, mit Umhängebeutel und Starbucks-Becher, manchmal auffallend geschminkt und meist sehr sportlich, strömen hinein und hinaus. Vielleicht steht die junge Frau mit Marilyn-Monroe-Frisur, die mit uns im Lift fährt, kurz vor ihrem grössten Karrieresprung: Denn in diesem 21 Stockwerke hohen Gebäude finden täglich mehrere Auditions statt – hier werden die Stars für Bühnenshows, Theaterproduktionen, Filme und Musicals gecastet. Auch für die Shows am nur zwei Blocks entfernten Broadway kann man hier vorsprechen, vortanzen, vorsingen. Auf dem Digitalscreen steht es: Heute werden wieder Darsteller für die neue Broadway-Productions von Cats gesucht – für ein anderes, noch geheimes Projekt warten gestandene Männer in High Heels im Flur, Notenblätter studierend. Hier im zwölften Stock treffen wir einen Deutschen: Martin Flohr, Executive Producer der internationalen Tour von West Side Story, die im November in der Schweiz starten wird. Ihm ist wichtig, dass die Produktion mit jedem kleinen Detail das höchste Niveau erreicht: «Es geht nicht nur um das Können der Leute, sondern auch darum, dass sie authentisch wirken. Das Stück spielt hier in New York, deshalb casten wir hier und nicht in Europa. Ausserdem sammeln sich hier ja auch die weltgrössten Talente.»

Wer darf mit auf die Musical-Tournee um die ganze Welt?

Nathalie Kaye Clater ist eine dieser vielen Wagemutigen und Selbstbewussten, die ihr Talent weltweit zeigen möchten – die 21-Jährige ist kürzlich von North Carolina nach New York gezogen, sie ist hier für die Audition der internationalen Tournee von West Side Story. Die erste Hürde hat die Kalifornierin mit langem, lockigem Haar und kastanienbraunen Augen schon vor zwei Wochen genommen: Aus den 400 Bewerberinnen und Bewerbern für die Musicalproduktion kam sie in die engere Auswahl von 35 Kandidierenden.

Nun steht Nathalie im Saal mit dem gros­sen Spiegel und folgt den Anweisungen von Joey McKneely. Er ist Regisseur und Choreograf der internationalen Tour – er wird entscheiden, wer mit auf die gros­se Reise gehen wird.

West Side Story Auditions 2016 - Joey McKneely
«Mr. West Side Story»: Joey McKneely

28 Jahre ist es her, als Joey, damals 19, selber für die West Side Story vorsprach – und zwar bei keinem Geringeren als Jerome Robbins (1918–1998), der 1949 die Idee für das Musical an dessen Komponisten Leonard Bernstein (1918–1990) herantrug – und dann die Choreografie für den weltweiten Musicalerfolg schuf.

Seit McKneely damals in der Show mitwirkte, lässt ihn das Musical nicht mehr los. Im Jahr 2000 inszenierte er es erstmals selbst, gilt seither als Mr. West Side Story.

Nathalie bewirbt sich als eines der Jet Girls, die heute zusammen mit den Shark Boys gecastet werden – in der Story geht es um rivalisierende Strassengangs im New York der Fünfzigerjahre. Die Bande der Jets besteht aus US-Amerikanern, die Sharks sind puertoricanische Einwanderer.

Für McKneely ist die bald 60-jährige West Side Story eine zeitlose Geschichte: «Das Thema um Rassenkonflikte ist heute mindestens so aktuell wie an der Premiere 1957», sagt McKneely. «Die aktuellen Begebenheiten zeigen ja, dass die Menschheit seither nichts dazugelernt hat. Aber es ist auch eine Love Story. Die erste Liebe – daran erinnert sich doch jeder gerne.»

Talent ist nicht alles, auch aufs Äussere kommts an

Auch er selbst habe eine emotionale Verbindung zum Stück, sagt McKneely: «Die West Side Story hat mein Leben verändert. Ich begegne ihr mit grossem Respekt, ändere an der Originalproduktion nichts. «Nun ja», fügt er hinzu, «möglicherweise ist meine Produktion emotionaler und realistischer als die Ur-Version von 1957.» Auf jeden Fall wolle er Schöpfer Bernsteins hohe Ansprüche beibehalten: «Erst kommt das Tanzen: Da müssen die Darsteller weit über dem Durchschnitt sein», weiss er. «Dann kommt die Stimme. Schwierig! Denn welches 18-jährige spanische Girl kann singen wie eine Opernsängerin? Und dann schaue ich auf den Typ, den Charakter der Bewerber: Finde ich die Unschuld von Maria? Erkenne ich den Optimismus von Tony?»

Erste Runde der Audition: Joey McKnee­ly steht im schwarzen Trägerhemd vor dem Spiegel und zeigt, welche Schritte und Sprünge er von den jungen Frauen sehen will.

Nathalie ist nun voll in ihrem Element. Als Tochter einer Choreografin und eines Regisseurs wurde ihr die Berufung in die Wiege gelegt. «Erst wollte ich zwar Fitnesslehrerin werden», sagt sie. «Doch dann gründeten meine Eltern eine Tanzschule und mein Bruder und ich mussten jede Klasse mit auffüllen, weil wir zu wenig Schüler hatten.» So hat sie mit 21 bereits in mehreren Musicals mitgewirkt, spielte Diana Morales in einer «A Chorus Line»-Inszenierung in Florida, war Marty in Grease, «… und im Musical Tarzan war ich ein Gorilla. Hat Spass gemacht».

Audition, Teil 2: Gesang. Erst einzeln, dann in Gruppen. Jetzt hat Donald Chan das Sagen. Er, der musikalische Leiter, dirigierte West Side Story über 1000-mal und kannte Bernstein noch persönlich.

Kein «Du bist weiter!»-Zettel wie bei Dieter Bohlen

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Joey McKneely (vorne links) und die Produzenten suchen die Stars von morgen.

Jetzt kann Andrès Acosta zeigen, was er gesanglich leisten kann. Tänzerisch hat er das bereits bewiesen, und eigentlich weiss Joey McKneely, was Andrès kann, wurde er doch von ihm für die letzte nationale Tour vor drei Jahren ausgesucht. Da war er nur ein einfaches Gangmitglied. Doch für die kommende Tour bewirbt er sich für die noch anspruchsvollere Rolle des Bernardo. Maestro Chan will es genau wissen – und lässt Andrès einige besonders schwierige Gesangsstellen vortragen. Neben ihm sitzt Joey McKneely, der das Trägerhemd ausgezogen hat und mit Hemd und Krawatte am Tisch sitzt.

Ob die Kandidaten gut waren oder nicht, darüber sagen die Pokerfaces Joey McKnee­ly und Donald Chan jetzt mal noch gar nichts. Mit Casting-Shows und Dieter Bohlen hat diese professionelle Welt nichts gemeinsam: Weder werden die Talente hier harsch heruntergeputzt noch aus dem Stand heraus in den Himmel gejubelt. Es gibt auch keinen «Du bist weiter!»-Zettel. Die definitiven Entscheidungen werden erst in einigen Tagen oder Wochen fallen.

Joey McKneely schickt Andrès jetzt in den Nebenraum, wo er für die Kostüme ausgemessen wird. Schon mal ein gutes Zeichen. Als nächster Kandidat folgt Christian Elan Ortiz – der 28-Jährige ist für McKneely und Chan kein Unbekannter, war er doch bereits auf der letzten Tournee dabei. Dass er nun erneut vorsprechen muss, erstaunt ihn nicht, wie er sagt: «Joey McKneely schenkt einem gar nichts, ich muss mich hier genauso bewerben wie die Neulinge. Finde ich fair, korrekt und klug.»

Kandidat Christian: «Das ist meine Lebensgeschichte.»

Das Musical ist für Christian mehr als eine Show: «West Side Story ist auch meine Geschichte – als Sohn mexikanischer Einwanderer bin ich in Pittsburgh PA aufgewachsen. Diskriminierung habe ich selber erlebt.» Die West Side Story stelle physisch grosse Herausforderungen, sagt er: «Man spielt es acht Mal in der Woche, es ist ein Drama, geht um Gefühle. Das zehrt, aber ich habe auch viel gelernt, es war die bisher grösste Erfahrung in meinem Leben.»

Ob es denn auch hinter den Kulissen Love Stories «im richtigen Leben» gab, will der neugierige Reporter wissen. Da schmunzelt Christian. «Allerdings, und zwar ist mir das auch selbst passiert. Aber ich gehe jetzt nicht ins Detail.»

Im Gang treffen wir Nathalie wieder, freudestrahlend. Gerade hat sie den dritten Teil dieses «Audition-Triathlons» absolviert. Sie musste eine der Szenen spielen. Das lief gut, auch sie darf sich nun ausmessen lassen.

Doch das heisst eigentlich noch gar nichts, wie uns Joey McKneely beim Abendessen nach zwei Tagen Casting verrät. Wie viele der Leute, die heute dabei waren, werden wir in Zürich und Basel wiedersehen? Wer von ihnen darf dann auch an den weiteren Spielorten in Europa und Asien dabei sein? «Vielleicht gar niemand», sagt McKneely, «wir werden uns in den nächsten Tagen und Wochen noch mehr Leute ansehen.»

Ist das nicht mühsam, so lange nach den richtigen Leuten suchen zu müssen? Macht das Spass? Was ist das Faszinierende daran?

«Es ist faszinierend zu sehen, wie sich die jungen Talente entwickeln – und selber dazu beitragen zu können», sagt Joey McKneely und fügt hinzu:

«Ja, ich habe einen ganz besonderen Job. Ich ändere Leben.»

West Side Story in der SchweizWest Side Story 2016

Tanzspektakel, Liebesromanze und Action-Thriller in einem: Ab November tourt die «West Side Story» wieder um die Welt – und kommt zuerst nach Basel und Zürich. Ab 22. November im Musical Theater Basel und dann ab 3. Januar im Zürcher Theater 11 ist das weltweit erfolgreiche Musical in Originalversion und auf Broadway-Niveau zu sehen: Dafür sorgt mit Joey McKneely ein Schüler von Choreograf Jerome Robbins, der das weltweit erfolgreiche Bühnenstück zusammen mit Leonard Bernstein und Stephen Sondheim in den Fünfzigerjahren schuf. Die Verfilmung des laut der Times «besten Musicals aller Zeiten» erhielt 1961 zehn Oscars; live geht die actionreiche Geschichte um erste Liebe und verhängsnisvolle Feindschaften aber noch näher.

 

WEST SIDE STORY
22.-27.11.16, Musical Theater Basel
03.-15.01.17, Theater 11 Zürich
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